Aufbruch
Pfarrer Eberhard Schwarz, der zuständige Leiter der Citykirchen in Stuttgart, kam im Oktober 2014 auf creo zu mit der Anfrage, eine temporäre Rauminstallation für den 35. Evangelischen Kirchentag im Juni 2015 und darüber hinaus bis Oktober 2015 zu realisieren.
creo - kunst im raum entwickelte auf Basis der Vorgespräche ein Konzept für diese Rauminstallation in einem historischen Sakralbau. Es wurden Modelle und ein Konzeptbuch erstellt, was in einer Präsentation vorgestellt wurde. Die vorwiegend gotische Hospitalkirche in Stuttgart ist nach der Ausstellung ab Oktober 2015 saniert und als Sakralraum für zeitgemäße Gottesdienste, die verstärkt auch kreative Ausdrucksformen einbeziehen, wieder eröffnet worden. Es ist nun eine „Kulturkirche“ als sakraler Raum für Gottesdienste, übergreifende Veranstaltungen und Konzerte entstanden.
Zentraler Ort der Installation ist ein Mauerdurchbruch in der Rückwand der Hospitalkirche. Er stellt eine Verbindung von Innen und Außen her und ermöglicht ungewöhnliche Perspektiven. Im Inneren eines Systems verliert man oft den Blick für die Dinge außerhalb. Dieser essentielle Kontakt von Innen und Außen wird auf Grund des Durchbruches zwangsläufig hergestellt. Darüber hinaus macht er die Verbindungslinie Kreuz-Taufstein-Altar möglich. Auf dem Weg vom Werden zum Vergehen müssen wir immer wieder neu aufbrechen. Dies erfordert manchmal einen radikalen Umbruch.
Eberhard Schwarz, pastor and head of the city churches in Stuttgart, asked creo in October 2014 for a contemporary room installation for the 35th German Protestant 'Kirchentag' (congress) in June 2015 and furthermore in October 2015.
On basis of the briefing creo - kunst im raum developed a concept for this installation in a historical sacred building. Different models and a booklet have been created for presentation. After the exhibition had completely been renovated, the 'Hospitalkirche, mainly a Gothic church, is now a place for contemporary church services, which will integrate more creative expressions.
Key place of the installation is the wall opening on the backside of the church. It finds a connection between inside and outside, which allows unusual perspectives. Within a system, someone often loses sight for the things outside. This wall opening will necessarily show us the essential contact between the inside and outside. It enables a connecting line cross-baptismal font-altar as well. On the way from the beginning to the ending, we have to set out again and again. This often requires radical change.
Umbruch
Vom Außenkreuz an der Rückwand der Hospitalkirche sind vier grüne Linien nach unten gezogen, die sich im Taufstein vereinigen. Von dort bis zum Altar zieht sich eine grüne Linie als Lichtband durch den Schutt des Aufbruchs. Das Band verbindet Leben und Tod und die ständige Erneuerung. Eine leuchtende Hoffnungslinie. Auf der Altarplatte, die mit einer Blumenwiese begrünt ist, endet die Linie. Neues Leben entspringt daraus.
From the cross on the back wall outside of the Hospitalkirche four green lines are drawn downwards. They unite with the baptismal font. From there a green line as a light band runs through the rubble oft the wall opening. A bright line of hope. The line ends at the altar plate, which is planted with a flower meadow. New life arises.
Durchbruch
Im Sinne der gotischen Raumkonzeption, den Sakralraum 'in den Himmel' zu öffnen, war es angedacht, die gotische Rippendecke der Hospitalkirche auszumalen, um so die 'Öffnungssimulation' zu erreichen. Das Landesamt für Denkmalpflege hat diese Idee unterbunden und so wurde ein Deckensegel für das 'Kirchenschiff' aufgezogen. In den Rauten der Längsachse sind Symbole verschiedener Weltanschauungen positioniert. In einer multipolaren Gesellschaft hat sich auch die 'Himmels'vorstellung verändert und man muss erkennen, dass es keine zentrale Glaubensbotschaft mehr gibt.
According to the Gothic room conception to open the sacred space 'to heaven', it was planned to paint the gothic ribbed slab of the church to reach the 'opening simulation'. The state office for the preservation of monuments has inhibited this idea and hence a ceiling sail was pulled up for the nave, 'ship'. In the innerfields of the reproduced 'ceiling' are symbols of different ideologies. In a multipolar society the imagination of 'heaven' has also changed and one has to recognize that there is no key message of faith anymore.
Zentrum Kulturkirche und Kirchentag
Ein wichtiger Punkt in der Konzeption ist die Bespielung des Raumes. Der Besucher soll Stellung beziehen und zum Nachdenken angeregt werden. Vier Monate lang mit Beginn des Deutschen Evangelischen Kirchentags hat die Rauminstallation 'gelebt' und 'gearbeitet'. Sie wurde bespielt und liebevoll von den fürsorgenden Helfern vor Ort betreut. Die vielen interessierten Besucher haben dort geschaut, gehört, gelesen, gebetet, gefeiert und diskutiert.
An important aspect in the conception is to enliven the contemporary space. The visitor should take position and should encourage reflection. For four months with the beginning of the 'Kirchentag' the room installation was 'living' and 'working'. Many interested people were looking, were listening, were reading, were praying, were celebrating and discussing.
"Hat sich unser Gesellschaftsmodell doch in eine schwierige Gesamtsituation manövriert. Umgeben sind wir alle von massenhaften, wertlosen Gegenständen. Diese 'Wertlosigkeit' neu bewerten, ihr sozusagen eine neue Dimension zu verleihen, sie in einen sakralen Zusammenhang zu bringen und damit den Kreis zur christlichen Botschaft zu schließen, ist ein Gedanke des Projekts Raumpiel KUNSTkirche. Wir bedienen uns dabei verschiedener ‚Zivilisationsgüter- und materialien’, weil wir damit den Bezug zum aktuellen Leben auch innerhalb der Kirche ausdrücken können. Wie definiert sich ,Zivilisationsgut und -material’ im Zusammenhang mit dem Sakralen? Die Kirche selbst hat dazu beigetragen, die Menschen zu zivilisieren. Wie H.J. Kutzner so schön in seinem Buch „Liturgie als Performance“ formuliert: "das ‚Material’ liefert das Leben", kann man diesen Satz umdrehen „Das Leben liefert das Material“. Wir benutzen also 'Zivilisationsmüll' für die Einrichtung eines sakralen Raumes. Auf den ersten Blick ungewöhnliche Materialien, um damit einen sakralen Raum zu installieren. Alltagsgegenstände, die massenweise produziert werden und wertlos erscheinen, werden so kreativ umgeformt und in einen neuen Kontext gebracht. Durch die Benutzung dieser Materialien wird eine zeitgemäße in ihrem Anspruch moderne Verbindung zur Liturgie zum Ausdruck gebracht. Die christliche Botschaft bedeutet im Kern eine Besinnung auf wesentliche Dinge des Lebens." (Text © creo - kunst im raum)
Our model of society puts itself in a difficult overall situation. We are all surrounded by mass production and worthless items. Revaluing this 'trashiness' and giving them a new dimension, putting them in a sacred context and hence the circle and establishing a bond to the Christian message, is an idea of the project Raumpiel KUNSTkirche. We use consumer goods and materials because in this way we can express a relation to current life in the Christian church. How does it define itself in connection with the sacred? The church itself has contributed to civilize humans. In his book "Liturgie als Performance" H.J. Kutzner formulates: "the 'material' supplies the life", you can turn this to "the life supplies the material". Therefore we use waste material to set a sacred room. Prima facie unusual materials to install a sacred room. Everyday objects in mass production and with seeming worthlessness, are creatively transformed and brought into a new context. The use of this items will express a contemporary and modern synthesis to the liturgy. Basically, the Christian message means a reflection on essential things of life.
Spuren
Gleich im Eingang findet der Besucher als erstes Installationsobjekt das Taufbecken, durch das er hindurchgehen muss. Dieses Objekt liegt auf dem Boden und zieht sich quer durch die gesamt Breite des Gebäudes. Im Becken liegt ein mit Wasser getränkter Filzbelag, der mit Fragmenten von Taufkleidern verfilzt ist. In allen Religionen ist das Wasser ein Symbol für Reinigung und Erneuerung. Die frühen Christen wurden mit dem ganzen Körper untergetaucht, um die komplette Erneuerung zu zeigen – der Beginn eines neuen Lebens. Durch das Betreten des Beckens werden sichtbare Wasserspuren hinterlassen, die den Lebenskreis aufzeigen. Geburt – Leben – Tod. Die Fußspuren der Besucher werden immer blasser, sie verlieren sich im Raum und lösen sich auf. Der Filz wird im Laufe der Zeit durch den ständigen Druck und die Bewegung der Füße eine Veränderung erfahren. Er wird immer dichter werden und dabei leicht schrumpfen
Bänke
Im Raum fallen die fragmentartig aufgestellten Bänke auf. Der Stuhl - die Bank als Sitzgelegenheit ist ein in der westlichen Kultur stark verankerter Gegenstand. Gäste werden willkommen geheißen und ihnen wird ein Sitzplatz angeboten. Sei es nur zum Austausch im Gespräch oder zu einer gemeinsamen Mahlzeit. Auch für Familien ist das gemeinsame Beieinandersitzen elementarer Bestandteil des Zusammenlebens. Dies lässt sich direkt auf das sakrale/religiöse Beisammensein übertragen. Die Gemeinschaft findet sich und setzt sich für kultische/liturgische Handlungen zusammen. Es findet ein Austausch statt. Die Bänke in der Ausstellung sind Gabionenkörbe, die mit Altglasscherben gefüllt sind. Sie dienen als Sitzgelegenheit für die Besucher und die fest in der Ausstellung installierten Sitzskulpturen. Die Sitzskulpturen sind mit Knochenleim und Acrylharz geformte und konservierte ‚Altkleiderrücken’, in Anlehnung an die typischen ‚Schalensitze’ von Stühlen. Vor den ‚Bänken’ sind leere fragmentartige Beinhüllen und alte Schuhe platziert, als Symbol für die leeren Kirchenbänke.
Innen und Außen
Eine Live-Cam überträgt den Fußgängerüberweg an der Alten Mainbrücke vor dem Spitäle in Echtzeit auf eine der blinden Fensternischen. Die hektische Betriebsamkeit, das ständige Hin- und Her draußen und die Ruhe und scheinbare Geborgenheit im sakralen Raum. Eine Projektion für die Verbindung zwischen dem alltäglichen und dem religiösen Leben. Der „Blick nach draußen“ zeigt aber auch den oft fehlenden und verwehrten Blick auf den profanen Alltag. Genauso ist der Blick nach innen oft unmöglich oder nicht gewollt. Es verlangt nach neuen religiösen Impulsen für ein in der heutigen Gesellschaft gelebtes Leben in seiner Dynamik und schnellen Veränderlichkeit. So müssen beide Seiten voneinander profitieren können, sowohl das sakrale als auch das profane Leben innerhalb und außerhalb und in seiner Gemeinsamkeit.
Lichtblick
Transparenz bezeichnet die Linie zwischen dem „Außen und dem Innen“. Durch Licht und Farbe entsteht ein Zusammenspiel. Licht bewirkt die Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Vor einem der Fenster ist eine achtteilige Installation montiert. Gestaltete Glasfenster waren und sind in der sakralen Architektur wichtige Informationsträger von bildhaften Inhalten. Inhalt dieses ‚Fensters’ sind die Themen „Mensch – Natur – Ökologie – Schöpfung - Transzendenz“. Verschmolzene halb transparente Plastiktüten legen einen farbigen Hintergrund mit einer vordergründigen Textur von Elektrodrähten - eine symbolhafte Darstellung der modernen Welt, die von einer Transzendenz durchwirkt ist. Der graue und dunkle Teil meint somit die menschliche Erfahrung, die ‚hardware’, die den Menschen täglich umgibt, – oft bedrohlich, unüberwindbar und undurchsichtig. Hinzu kommt das in Rot symbolisierte Wesen des Lebens, Blut als Lebenskraft und Heil bringende Menschwerdung. Die Farbe Grün steht für Natur und Schöpfung, im Einklang mit dem Menschen in dessen Obhut gestellt und die es gilt, zu bewahren und zu pflegen. Der Mensch braucht die Natur für seine Existenz. Im Licht transparenten Weiß spiegelt sich die göttliche Existenz in ihrer Transzendenz und Stärke, beharrlich und kraftvoll. Symbolhaft stehen die Drähte für Vernetzung und Verschaltung durch die globalen Einflüsse unserer modernen Zeit. Der Mensch sozialisiert sich heute anders als vor 20, 30 Jahren. Kommunikation durch Vernetzung und Verkabelung haben höchste Priorität in der Nachrichtenverteilung gewonnen.
Wort
Die inflationäre Wahrheit in Form des Wortes kommt heute durch die Medien zu uns. Sie wird minütlich per Twitter und Internet, stündlich per Fernsehen, und täglich in den Printmedien verkündet. Der Ambo aus Altpapier - die Wahrheit von gestern und vorgestern, schnell entsorgt und vergessen, durch neue Wahrheiten überlagert. Zeit innezuhalten und die Wahrheit zu prüfen und nachzudenken über das Wort.
Tisch
Der Altar, ein Ort der Eucharistie, dem gemeinsamen Mahl, ein Gedächtnisort, der mit der Gemeinde verwoben ist. In der anfänglichen christlichen Zeit konnte für die Eucharistiefeier jeder beliebige Tisch benutzt werden, doch bereits im 4. Jahrhundert wurde der Altar ein fester Bestandteil des christlichen Kultraumes. Nach modernem Liturgieverständnis steht der Altar beim Volk und somit mitten im Kirchenraum. Der „Altar der Erden“ ist in archaischer Form aufgemauert. Er besteht aus ca. 200 PET-Flaschen, die mit Erde gefüllt sind. In der Mitte bildet rote Erde ein Kreuz. Die Erde stammt aus verschiedenen katholischen und evangelischen Gemeinden der Region als Zeichen der Gemeinschaft. Sie ist Symbol für die Verbundenheit durch den gemeinsamen Glauben und das geistige Wachstum im gegenseitigen Austausch. Creo hat PET-Flaschen mit dieser gesammelten Erde befüllt, die Flaschen mit den Ortschaften beschriftet und sie dann zu einem Altar montiert. Erde als ein faszinierendes Material, das schon viele Künstler inspiriert hat. Die Erde versinnbildlicht den Ursprung und die Schöpfung, die Basis der Fruchtbarkeit, des Wachstums, und des Todes. Sinnbild für Werden und Vergehen. Wasser – ohne Wasser ist kein Leben möglich. Millionenfach wird dieses Lebens-elixier in PET-Flaschen gefüllt. Als Müll verpesten diese „Wasserträger“ Kontinente und Meere.
Heilig
In einer ehemaligen Figurennische seitlich vor der Apsis sind Fotos von lebenden Personen projiziert. Sie zeigen, dass jeder Mensch in sich das Heilige trägt. Heilige können unbequem, nervtötend und beunruhigend sein. Sie stehen nicht auf dem Sockel sondern stellen unbequeme Fragen und stören das ruhige und satte Leben.
Schmerz und Leid
Der Gang durch den Raum führt weiter zu einer vierteiligen Arbeit, die sich mit dem Themengebiet Leiden und Schmerz beschäftigt. Hier geht es darum, diese meist abstrakten Themen nachvollziehbar und direkt darzustellen. Im Laufe der Ausstellung, durch Agitation und Performance, werden die Objekttafeln unter Einwirkung von Gewalt und Destruktion einer ständigen Veränderung unterworfen.
In Anlehnung an die Passionsgeschichte wird der Besucher mit Schmerz und Gewalt konfrontiert. Leiden, das mehr oder weniger emotionslos von außen wahrgenommen wird und mit dem man sich selbst mehr oder weniger identifiziert. Gewalt aus der Sicht des Täters, meist ohne Gefühlsnahme für das Opfer.
Der klassische Kreuzweg wird hier auf eine profane Ebene gebracht und bekommt somit eine weltlich dimensionierte Bedeutung. Überall auf der Welt geschieht Gewalt und Terror, Mord und Totschlag, Demütigung und Bloßstellung – und kein Ende in Sicht. Die Geschichte des Leidens und des Schmerzes schreibt sich ohne Einhalt immer fort.
Kreuzlinien
Das Kreuz wurde im Jahre 431 durch das Konzil von Ephesos als christliches Symbol eingeführt, es leitet sich von der Kreuzigung ab. Es ist DAS christliche Symbol für Tod und Auferstehung und steht für Frieden, Hoffnung und Erlösung. Die große Kreuzinstallation in der Apsis zeigt die Auflösung des Widerspruchs von Ohnmacht und Macht, die Gebrochenheit der menschlichen Existenz. Es schließt symbolisch den christlichen Lebenskreis. Die beiden aus der Horizontalen und Vertikalen herausgerissenen Kreuzbalken sind aus alten Grabkreuzen gefertigt und nicht miteinander verbunden. Die Nachnamen der Verstorbenen sind ausradiert, so dass nur noch die Vornamen und die Geburts- und Sterbedaten sichtbar sind. Werden und Vergehen.
Bespielung des Raumes
Die Belebung des temporären sakralen Raumes durch verschiedene Veranstaltungen war ein wichtiger Aspekt des Projekts Raumspiel KUNSTkirche. Dabei ist ein interessantes und abwechslungsreiches Programm in Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen entstanden.
Förderung u.a. durch die Stiftung KUNSTFONDS
Bibliografie:
Katalog "Raumspiel Kunstkirche", creo - kunst im raum, Pagma-Verlag Nürnberg, 2013, ISBN 978-3-9810758-4-7
Werk + Text: © creo - kunst im raum
Fotos: © Tino Müller